Mitteilungen aus dem Saterfriesisch-Büro

Friesisch hat mehr Verbformen erhalten als Deutsch und Englisch

Henk Wolf, 10.5.2022

Um das Jahr 200 gab es die Sprachen Hochdeutsch, Niederdeutsch, Niederländisch, Englisch und Friesisch noch nicht. Diese sind erst später aus der damaligen Sprache Westgermanisch enstanden. Dass die heutigen Sprachen eine gemeinsame Stammessprache haben, kann man heutzutage noch gut hören: Wörter wie ‘Mann’, ‘Haus’ und ‘acht’ kommen mit geringfügigen Unterschieden in all diesen modernen Sprachen vor.

Das Westgermanische hatte mehr Verbformen als das heutige Deutsch. So verwendete man für die Formen von ‘singen’ in folgenden Sätzen immer andere Wortformen: ‘ich kann singen’, ‘ich hasse Singen’, ‘Singend kam sie herein’. Im gesprochenen Deutsch weicht nur die letzte Form durch die Endung -end ab, die beiden anderen Sätze haben -en als Ausgang. Im modernen Plattdeutschen und Niederländischen geht es genau so.

Im Englischen wird in den zwei letzten Sätzen die gleiche Form verwendet, während die erste Abweicht: ‘I can sing’, ‘I hate singing’ und ‘She came in singing’. Die modernen Sprachen haben also die alten Verbformen auf verschiedene Art und Weise zusammengelegt. Dadurch sind sie im Laufe der Zeit einfacher geworden.

Das gilt jedoch nicht für die friesischen Sprachen. Die haben die drei Verbformen bis auf den heutigen Tag erhalten. Saterfriesich hat zum Beispiel: ‘iek kon sjunge’ (-e), ‘iek hoatje Sjungen’ (-en) und ‘Sjungend koom ju binne’ (-end). Nordfriesisch macht es genau so: ‘ik koon sjunge’ (-e), ‘ik hååd sjungen’ (-en) und ‘sjungend köm jü trooch’ (-end). Westfriesisch hat: ‘ik kin sjonge’ (-e), ‘ik haatsje sjongen’ (-en) und ‘sjongend kaam se deryn’ (-end).

Moderne Minderheitensprachen haben oftmals viele alte Eigenschaften erhalten. Das kommt dadurch, dass es sie nur noch gibt, da sie längere Zeit relativ isoliert gesprochen wurden. Diese Isolation bedeutet, dass sie lange fast nur als Muttersprache gelernt wurde. Sprachen vereinfachen viel schneller, wenn Fremde dazu kommen und Fehler machen, die dann von den Kindern aufgeschnappt werden.

(unter dem Titel “Bewahren durch Isolation” auch als Kolumne im General-Anzeiger erschienen)