Im Friesischen ist ‘viel’ eigentlich ‘voll’

Henk Wolf, 5.11.2022

Das Gegenteil von ‘wenig’ heißt auf Hochdeutsch ‘viel’. Auf Plattdeutsch sagt man ‘veel’, auf Niederländisch ‘veel’ und Englisch hat das – heute sehr selten gewordene – ‘fele’. In all diesen Wörtern komt ein ie-Laut oder ee-Laut vor. Diese Laute sind einander recht ähnlich, sie werden mit fast geschlossenem Mund und gespreizten Lippen ausgesprochen.

Dass diese Wörter einander ähneln, ist ziemlich selbstverständlich. Hochdeutsch, Niederdeutsch, Niederländisch und Englisch sind alle aus der vormittelalterlichen Sprache Westgermanisch hervorgegangen und diese Sprache hatte noch das Wort ‘felu’ – mit einem ee-Laut, also.

Auch die friesischen Sprachen sind aus dem Westgermanischen entstanden, aber diese haben ganz andere Laute. Die Saterfriesen sagen ‘fuul’, die Westfriesen ‘folle’ und die Nordfriesen ‘foole’. Die oo- und uu-Laute in diesen Wörtern werden mit viel weiter geöffnetem Mund und gerundeten Lippen geformt. Der Unterschied zu ee/ie könnte kaum größer sein. Wie kann sich der alte ee-Laut bei den Friesen so stark geändert haben?

Wahrscheinlich haben die mittelalterlichen Friesen die Wörter für ‘viel’ und ‘voll’ durcheinandergebracht. Für ‘voll’ sagten sie ‘ful’ oder ‘fol’. Es kommt in der Sprachgeschichte häufig vor, dass Wörter mit verwandten Bedeutungen miteinander vermischt werden. Das deutsche Wort ‘Maulwurf’ ist ein bekanntes Beispiel: im Mittelalter wurde ‘Moltwerf’ (Molt = Erde) gesagt, aber das auffällige, spitze “Maul” des Tierchens wurde durch Assozierung in das Wort integriert.

Im mittelalterlichen Friesisch bedeutete ‘fele’ nicht  nur ‘viel’, sondern auch ‘sehr’. ‘Sehr stark’ war ‘fele steric’. Wenn man bedenkt, wie junge Deutsche heutzutage “voll blöd” oder “voll gut” sagen, kann sich vielleich noch besser vorstellen, dass für die alten Friesen ‘viel’ und ‘voll’ eigentlich sehr ähnliche Begriffe waren, die sich leicht vertauschen ließen.

Übrigens haben ‘fele’ und ‘fole’/’fule’ noch lang nebeneinander existiert. Dass in allen friesischen Sprachen ‘fele’ verschwunden ist, ist Zufall.

2 Kommentare

  • Im ostfriesischen Platt fööl mit -öö- statt langem ē. Remmers macht Andeutungen darauf das es sich um friesisches Substrat handelt.

  • Die Form mit -öö- kommt auch in niedersächsischen Mundarten außerhalb des historischen friesischen Siedlungsgebiets vor, zum Beispiel in Twente. Vermutlich hat Remmers hier unrecht und ist die Vokalrundung späteren Datums. Es gibt weitere Beispiele von solcher späten Rundung, darunter “söven” (neben “seven”, die Zahl 7) und bei “bösig” (neben “besig”, beschäftigt) und “höäl” (neben “heel”, sehr/ganz).